Einführung "Einblicke"    

 

Rede von Sabine Arlitt anlässlich der Eröffnung der Ausstellung "Einblicke" in der galerie art station, Zürich, 2016
 
Stille Post auf Wanderschaft

 

Einblicke heisst die neuste Ausstellung in der Galerie von Isabella Lanz: viermal wird auf der Einladungskarte in ein Künstleratelier geblickt. Hans-Uwe Hähn, Otto Heigold, Willi-Peter Hummel und Theo Hurter heissen die eingeladenen Künstler, die in einer bedachten Auswahl vorwiegend mit zeichnerischen Arbeiten vertreten sind. Die Zeichnung soll denn auch dieses Mal an der Hochstrasse 28 in Zürich pointiert im Blickfeld stehen, ihrem Reichtum, ihrer Vielfalt, ihrem Potenzial zuliebe.

Der (leicht gelenkte) Zufall will es, dass der Name aller vier Künstler mit einem H beginnt. Verspricht ein gemeinsamer Buchstabe auch Gemeinsamkeiten? Wohl kaum. Dennoch, das Verbindende zeigt sich darin, dass alle vier von der Galeristin vertreten werden. Das Verbindende zeigt sich konkreter, dass einzelne der Künstler miteinander befreundet sind, teils schon viele Jahre, ja Jahrzehnte, und dass sie dabei einen regen Gedankenaustausch pflegen. Zuweilen kennen sie sich aber auch nur flüchtig oder begegnen sich in der Ausstellung zum ersten Mal.

 

Verrät ein fotografisch vermittelter Raumausschnitt etwas über den Menschen, der darin tätig ist, darin wirkt, darin handelt? H lässt auch an Handlung oder Hängung oder Handwerk oder Haltung oder Hand denken. Zeichnung erwächst in einem bedeutsamen Mass einer schnellen Handbewegung wie einer kontinuierlichen Bewegung der Hand. Die Hand tastet sich voran, sie führt die Zeichenutensilien und sie lässt sich von den Materialien, der Materialität, führen. Zeichnen ist in einem ganz entscheidenden Mass Rhythmus, rhythmischer Niederschlag, rhythmisierende Anlage. Ja, wie steht es nun mit den Botschaften, die wir den Atelier(ein)blicken zu entnehmen glauben oder herauszulesen vermögen oder einfach assoziieren?

 

Vielleicht haben Sie sich selbst ein bisschen von dem Einladungspuzzle anregen lassen, vielleicht sich gefragt, was für ein Mensch wohl an diesem oder jenem Tisch sitzt, wer sich auf dem Boden direkt vor der Wand bewegt, wer wohl über den Spiegel die Selbst-Reflexion auf sinnlich-konzeptuellem Umweg zur persönlichen Charakterisierung und Wesenserkundung einbringt? Zeichen werden viele gegeben, doch sprechen sie keine normierte Sprache, wie sie dem Umgang mit den Buchstabenfolgen des uns vertrauten Alphabets eigen ist. Die zeichnerischen Wegweisungen weisen auf viele Weisen in verschiedenste Richtungen. Mehr und mehr gehen die Einblicke, wenn sie nach und nach auf die ausgestellten Arbeiten gerichtet sind, mit einem räumlich-gedanklichen Erwandern einher. Zeichnend gehen wir auf Reisen. Im umkreisenden Erkunden von Orten begegnen wir ständig sich (ver-)wandelnden Resonanzbeziehungen in meist flüchtiger Unfassbarkeit.

 

Hier setzt eine Hand mit einer beinahe didaktischen Konzentriert- und Zielgerichtetheit eine auf Präzision angelegte Linie aufs Papier. Dort schafft sich eine dynamisch-konzentrierte Geste Aktionsraum. Andernorts entwickelt sich ein werdendes Erscheinen voller Poesie. Schliesslich wird im medialen Wandel eine Art Zeitfenster eröffnet und es erwächst aus dem materiellen Niederschlag eine Entmaterialisierung ins Geistige, in geistig Erfülltes und – verwandelt – gleichzeitig ins assoziativ erlebte Körperliche auch.

 

Über die Jahre konnte ich alle vier Künstler mindestens einmal in ihren Ateliers besuchen, ihren Wirkungsstätten mit ihrer jeweils eigenen Gestimmtheit. Wohl nicht nur wegen der Rauchpausen traten Theo Hurter und ich bei meinem Besuch mehrmals vors Haus. Mit ihm verbinde ich das Erwandern des Wanderers am stärksten und in gewisser Hinsicht am konkretesten realisiert, ob zu Recht oder nur empfindungsmässig, möchte ich Ihnen, liebe Vernissagegäste, überlassen. Theo Hurter macht das Prozesshafte des Zeichnens höchst pointiert zu einer Kategorie der Konzeption wie auch der Wahrnehmung. «Die Wüste durchqueren» heisst ein Zeichnungszyklus von ihm, aus dem einzelne Blätter hier in der Ausstellung vereint sind. So unspektakulär die Blätter daherkommen, so intensiv machen sie im Gegenzug das Erleben von Zeichnung realisierbar – ein wahrnehmendes Erleben wird offenbar.

Nüchtern ist die Beschreibung der Vorgehensweise durch den Künstler selbst, auf die ich im Folgenden zurückgreife:

«Ich beginne oben links auf dem Papier mit einem gespitzten Bleistift (B3) das Papier leicht zu schraffieren. Nach einer Weile, wenn der Bleistift stumpf geworden ist, wird er erneut angespitzt, die Spitze an Ort durch kleine Kreisbewegung gebrochen,

das ergibt dann die schwarzen Punkte auf der Zeichnung. Dann wird wie zu Beginn weiter leicht schraffiert, bis der Stift wieder stumpf geworden ist.

Dieser Vorgang wird fortgesetzt, bis das Papier belegt ist mit Schraffur und Punkten...»

 

Theo Hurter schrieb mir, dass ihn diese Arbeit an eine Wanderung durch die Wüste erinnere, daran, «wie man so vor sich hingeht, seinen Gedanken nachhängt und hin und wieder eine Pause einlegt». Die schwarzen Punkte sieht er als Wasserstellen, als Oasen in der Wüste. Dass diese Zeichnungen von Zeit zu Zeit aus einem Bedürfnis nach Ruhe und Einkehr entstehen, ist mit voller Intensität nachvollziehbar. Aber auch, wie Zeit eingeht in die Zeichnung, wie Material sich einschreibt, wie Handlung sein ist, wie Material aber auch das Blatt verlässt, flüchtig wird. Die Zeichnung sich zeichnen lassen, bis das Blatt erwandert ist...

 

Bei genauerer Betrachtung fällt allerdings auf, dass die einzelnen Blätter in zwei sich unterscheidende Gruppen eingeteilt werden können. Nicht überall wurde dem strengen Konzept gefolgt, zuweilen nach Lust und Laune schraffiert, pausiert, intensiviert. Die unterschiedlichsten Assoziationen stellen sich ein: man denkt an Hautoberflächen und Mondlandschaften, an die Wüste und an menschliches Gewebe – man denkt auch an Atmung, an das Pulsieren des Herzschlags. Es wird zeichnend das Leben schlechthin thematisiert.

 

Einen modulierten Wort-Raum empfinde ich in den poetisch gestimmten Linien- und Formenverläufen Hans-Uwe Hähns sich latent Gehör zu verschaffen. Seine Zeichnungen klingen für mich, sie erzählen, indem sie spiralig murmeln; sie hauchen, streifen, berühren, sie tönen – an –, ohne zu bezeichnen, sie wirken noch mit dem Zustand des Plasmatischen durch eine durchlässige Nabelschnur verbunden. Verwandlung entwickelt sich, Motive werden angestossen, ein zeichnerischer Niederschlag löst einen nächsten aus. Alles wehrt sich gegen Verfestigung, schemenhaft begegnen sich miteinander kommunizierende Kräfte. Etwas Wundersames geht oftmals mit den höchst fragilen Notationen einher, die wie kostbare – schützenswerte –Kleinode in schmalen, schlichten Glaskästen für Momente gleichsam Station machen, um als rare Gabe einer behutsamen Annäherung zu dienen. Die andere Art des Fensters verändert die Art des Blicks. Schlafwandlerisch wach gestaltet sich die Wahrnehmung. Lichtbrechungen im sanften Wirbelstaub legen einen eigenen Zauber über die Welt. «Zurück ist das Staunen der Verwandlung» heisst der Zyklus, in welchem gleichsam wie in einem Sieb Dinge aufgefangen und in die Sichtbarkeit getragen werden.

 

In keinen Schutzraum können sich die zuweilen archaisch anmutenden Zeichen bei Willi-Peter Hummel zurückziehen. Oder doch? Er selbst betont, dass die Poesie des Archaischen durch die Wechselwirkung von Schatten, Rändern, Spuren sichtbar gemacht werde. Schatten lassen sich nicht einfangen. In diesem Sinn, sind sie vor Zugriffen geschützt. Bei Willi-Peter Hummel ist ein ganz anderes Temperament am Werk, als es beim eben erwähnten Hans-Uwe Hähn der Fall ist. Öffnet sich dieser bewusst einer Wahrnehmungsweise, die auch ein wundersames Staunen zulässt, so treibt jenen zuweilen geradezu eine schöpferische Wut an, das nicht Greifbare dennoch berühren zu wollen. Einatmen – halten – loslassen – um im mittigen Dazwischen eine Umarmung als Umriss zu erfahren. Willi-Peter Hummels offen gehaltene, dabei tendenziell ideographische Zeichen sind meines Erachtens stets betont persönlich codiert, wobei analytischer Anspruch und emotionales Ereignis verschmelzen. Von performativen Sensogrammen möchte ich sprechen, wohl wissend, dass dieser Begriff nicht existiert. Die Metapher der Bildarena erfährt eine real interpretierte Umsetzung, welche die zeichnerische Kontaktnahme mit dem Blatt zu einer performativen Äusserung werden lässt. Im Zuge der Ausführung versucht Willi-Peter Hummel eine Konkretisierung zu erreichen, um derart dem Ungreifbarem Greifbarkeit abzuringen. Er umreisst, was sich nie wirklich umreissen lässt. Körper und Raum stehen bei Theo Hurter, Hans-Uwe Hähn und Willi-Peter Hummel in einer subtil abweichenden differenzierten Resonanzbeziehung.

 

Otto Heigold, der vierte im Bunde, hebt buchstäblich ab, wenn er sich Tag für Tag in seine Raumstation – sein Atelier – begibt. Von dort aus startet er seine Expeditionen zum Bildplaneten, den er immer wieder von Neuem umkreist. Er spricht von Zwischenlandung und Vogelschau, von Nah- und Fernsicht, Bildpiste und Gedankenhaut. Über das Zeichnen ist er zum Zeichen gelangt, in der individuellen Prägung und Ausprägung zum Ottogramm. Otto Heigold kommentiert seine Arbeitsweise. Wenn er schreibt, beschreibt er und er fragt immer gleichzeitig. «Ich stelle mir die Frage: <Was heisst Zeichnen können?>», ist etwa in seiner kleinen Publikation «ZWISCHENLANDUNG» nachzulesen. «Ist Zeichnen vorzeichnen, abzeichnen, bezeichnen, verzeichnen, skizzieren, durchzeichnen, entwerfen, gestalten, hinzeichnen, illustrieren, erzählen, beleuchten, perfektionieren, einzeichnen, anzeichnen, umreissen?»

 Schon allein diese Auflistung von Verben lässt erkennen, dass Otto Heigold sich gegen Festgesetztes sträubt. Den Bildraum, sagte er mir in seinem Atelier, sehe er als offenes Gefäss, er dürfe keine Konservendose sein. Die Hängung seiner Zeichnungen gleicht einem Flattersatz. Seine Zeichensprache gestaltet sich als Setzkasten mit auswechselbaren, immer wieder anders kombinierbaren, gerade auch collagehaft nutzbaren Modulen. Schnittstelle ist ein Kernbegriff in seinem Denkkosmos. «Wenn Bilder reden, gehen, klingen», heisst es in seiner neusten Publikation «Ich bin im Bild», die diese Woche in einer ersten Buchvernissage in Luzern vorgestellt wurde. «Befindlichkeit» ist ein Codewort für Otto Heigolds Schaffen. «Alltag» trägt die hier vorgestellte Zeichnungsgruppe als Titel. In elliptischen Umlaufbahnen nähert er sich dem, was ihm tagtäglich auffällt, an. Er löst eine Art verschleifendes Wahrnehmen aus und er bringt die Figuren durch sequenzartige Überlagerungen zum Vibrieren. Er reagiert auf die Bildwelt der Papierrückseite, er reagiert auf das, was vage durchscheint. Das Leben hält einen Bilderpool bereit.

 

©Sabine Arlitt, Zürich, Juni 2016