Einführung Verstehen auf Zeit    

 

Rede von Sabine Arlitt anlässlich der Eröffnung der Ausstellung
"Verstehen auf Zeit", art station, Zürich, 2014
 
Stetes Begehren nach Berührung

Verstehen auf Zeit
nennt Willi-Peter Hummel seine neuste Ausstellung. Auf Zeit schliesst etwas Vorübergehendes ein, auf Zeit gibt uns zu verstehen, dass wir keinen Besitz ergreifen, doch etwas im Moment, in einem punktuellen Kürzestmoment, möglicherweise erfahren, erleben, berühren können. In einer Übergangssituation gleichsam. 

 In Willi-Peter Hummels Gemälden, die Bilder in einer über die Jahre hinweg intensivierten Reduktion freigeben, herrscht viel roh belassener Umgebungsraum, der alles andere als leer ist. Was leer anmutet, ist ein aktiver Mitspieler, wenn nicht gar der Regisseur. Persönliche Räume sind stets mit ihrer Umgebung verhängt, und sie werden durch diese bestimmt, ja überhaupt erst möglich gemacht – in einer Art differenzierender Abgrenzung im Zuge der Annäherung an Fragen der Identität.

 
Durchlässigkeit relativiert Grenzziehungen. Durchlässigkeit erinnert an Bestehendes, buchstäblich Erinnertes. Durchlässigkeit ebnet darüber hinaus den Weg für Verschmelzungen unterschiedlichster Systeme, Eigenschaften, Vorhaben und Sehnsüchte. Die Leinwand, die das kreuzartige Chassis durchscheinen lässt, ist für Willi-Peter Hummel Austragungsort. Ein Ort des Geschehens. Aber auch ein Ort des Geschehenlassens, ein Ort jedoch vor allem des Agierens und Reagierens – des Eindringens, ja Einverleibens und Umhülltwerdens auch.

 
In zwei Anfang der achtziger Jahre entstandenen Gemälden hallt das kunsthistorisch tradierte Motiv des aufgehängten, ausgeschlachteten Ochsen noch deutlich nach. Vor allem die Bilder des geschlachteten Ochsen Chaim Soutines kommen einem in den Sinn, wobei sich dieser in Paris wirkende Künstler wiederum auf die Darstellungen Rembrandts bezog. Bei Soutine ist der in die Zweidimensionalität «geklopfte» Tierkadaver derart aufgespannt, als ob er zur Leinwand selbst würde.

 
Willi-Peter Hummels Bilder herkömmlich auf begrifflicher Basis entschlüsseln zu wollen, bringt Sie nicht wirklich weiter; es lenkt Sie eher in eine Sackgasse. Ratsamer ist es, den in die Werke eingeflossenen Energien Ihre Aufmerksamkeit zu schenken, den zufälligen genauso wie den initiierten Energien. Doch zu Recht werden Sie einwenden, dass es so eine Sache ist mit dem Versuch, den Energiefluss sehen und ihm folgen zu wollen, besonders, wenn es um eine Verbindung und einen Ausgleich materiell-physischer und geistig-energetischer Aspekte geht.

 
Um Action Painting geht es allerdings ebenfalls nicht, auch dies würde eine falsche Fährte legen. Ein Gefühl für Konzentration und daraus hervorgehender Konzentriertheit ist entscheidend. Angelegte Bewegungsimpulse und real ausgetragene Bewegungen spannen eine Art Koordinatennetz auf, unterschwellig stärker körperlich denn visuell wahrnehmbar. Allerorten ist er zu vernehmen, der Ruf nach einer anderen Sprache: nennen wir sie provisorisch artikulierte Bildempfindsamkeit.

 
Berührbarkeit, konkret verstanden und im übertragenen Sinn interpretiert, wird zum Schlüsselwort. Den Schichten hinter den Schichten hinter den Schichten, den Bildern hinter den Bildern hinter den Bildern versucht Willi-Peter Hummel habhaft zu werden, wohl wissend, dass alles wie Sand durch die Finger fliessend sich immer von neuem entzieht. Der Begriff Wut ist in unseren über die Jahre sich hinziehenden und immer wieder neu aufgenommenen Gesprächen wiederholte Male gefallen.

 «Wir kehren immer zum Wasser zurück» heisst es im Roman «Vom Wasser» des Autors und Langstreckenschwimmers John von Düffel. Der Versuch zu flüchten wird darin als Illusion entlarvt. «Denn der Sog des Wassers, seine unnachgiebige Anziehungskraft, bannt uns auf die Plätze. Es gibt kein Zurück mehr. Es gibt nur die Flucht nach vorn, die Flucht vor der Angst in die Angst, der Sprung, die Überwindung und das Eintauchen in das andere Element und die Hoffnung, es möge uns gut sein und eins werden mit unseren Bewegungen und uns nicht abweisen, fremd und unverwandt, die Hoffnung, es möge uns aufnehmen, nicht verstossen.»
 

 Als ich diese Zeilen von Düffels las, der einleitend schreibt: «Und vielleicht werde ich am Ende dieses Buches an einem Fluss sitzen, auf das Wasser schauen und es verstehen», musste ich an Willi-Peter Hummel und seine Malerei, seine Zeichnungen und seine Grafik denken. Übrigens promovierte der deutsche Autor 23-jährig über Erkenntnistheorie. Auch Willi-Peter Hummel treiben Erkenntnisfragen an. «Emergenz der Dinge» hiess eine Ausstellung 2008 hier in der Galerie art station, die Willi-Peter Hummel gemeinsam mit Max Frey bestritt.

 
«Ich bin allen Diskussionen aus dem Weg gegangen, weil ich immer der Meinung war und es auch heute noch bin, dass man sich die sogenannte sichtbare Welt erst einmal genauer anschauen sollte, bevor man über Metaphysik argumentiert», schreibt von Düffel weiter und er erzählt von der Macht des Wassers. «Und diese Macht ist eine sehr wahrnehmbare, wirkliche Macht, wie ich heute weiss.»1

 
Auch bei Willi-Peter Hummel ist das nicht wirklich Sichtbare – wahrnehmbar. Und so braucht es beim Publikum die Bereitschaft zur Einsicht, begreifen zu wollen, dass das Unbegreifliche in der künstlerischen Transformation begreifbar gemacht werden soll. – Ein Zustandswechsel wird im Grunde auch bei den Betrachtenden selbst als Potential freigelegt. 

 Unbequemes zu wagen, ist auf die Bereitschaft angewiesen, Hinterfragung zuzulassen. Von Düffel blieb seinem Schreiben treu, was die Kritik nicht in gleichem Mass tat. «Kleine Philosophie der Passionen: Schwimmen» hiess ein späteres Werk. «Kleine Philosophie der Passionen: Malen» könnte ich mir gut als Ausstellungstitel für eine nächste Präsentation mit Werken von Willi-Peter Hummel vorstellen. Er setzt, was einzelnen unter Ihnen längst bekannt sein dürfte, die Malerei metaphorisch mit der Corrida gleich. Geradezu rituell ausgetragene Konfrontationen und konzentriert vorbereitete Begegnungen hautnaher Berührungen ereignen sich. Dabei wirkt die Leinwand als Membran. «Immer wieder mischen sich im Wasser Sehnsucht und Angst, immer wieder verbinden sich auf den weiten, offenen Strecken Schönheit und Gefährlichkeit im Zusammenspiel von Wasser und Bewegung», heisst es im Klappentext von von Düffels Buch «Schwimmen», was durchaus auf Willi-Peter Hummels Tun übertragbar ist. 

 Neben der Wut blitzt auch der Triumph einer momenthaften Verbindung auf, hie und da, auf Zeit...Lichter brechen sich Bahn, sie beleuchten Zerrissenheit. In radikaler Zuspitzung erscheint das Licht beinahe als Riss.

 Letztes Jahr ist in der Edition SchwarzHandPresse die kleine und feine Publikation «An der Küste» mit Originaloffsetlithographien von Willi-Peter Hummel erschienen. Als einziger Textteil wird ein Satz von Theodor Fontane zitiert: «Er lässt sich nieder, und die Figuren in den Sand zeichnend, ziehen die wechselnden Bilder seines Lebens an ihm vorüber.» 

 Die Ausstellung hier in der Galerie art station ist keine Retrospektive, was zu Willi-Peter Hummels lebendiger Malereieinstellung auch nicht passen würde. Frühe Arbeiten aus den achtziger Jahren werden solchen, die aus den Jahren 2013/2014 stammen, gegenübergestellt. Stärker verdichtet und sublimierter wirken dabei die neueren Werke. Dabei offenbart sich eine innere Zusammengehörigkeit, eine zeitübergreifende Verwandtschaft. Hatte Willi-Peter Hummel die Leinwand in einer von Blautönen beherrschten Malerei aus dem Jahre 1986 noch mit seinen in Farbe getauchten Füssen bearbeitet, so erwecken die neusten, von Weisstönen und schwarzen Linien und Bahnen bestimmten Werke den Eindruck, dass sich das Farbgeschehen buchstäblich im Bildkörper ereignet, hervorbrechend und zurückdrängend zugleich. 

 Die meist direkt mit den Händen behandelten Leinwände werden gleichsam zum Schauplatz visuell erfahrbar gemachter Ladung. Das Sehen ist, was weithin verlorenging, – wieder – in eine Tasterfahrung eingebettet. Betont zeichnerisch tritt die Malerei in Erscheinung, malerisch präsentieren sich im Gegenzug die Zeichnungen. Unterschwellig scheint sich alles auf ein Symmetrieverhältnis mit Abweichungen zu beziehen. Die Arbeiten fördern in einer Art Echo ihre Prägung durch früheste Felszeichnungen zutage. Der häufig beigemischte Sand unterstreicht denn auch die referenzielle Verbundenheit mit steinernen Wänden als Mal-Gründen. Doch der Sand sorgt darüber hinaus auch für subtile Lichtreflexe und er spielt metaphorisch auf die vielschichtige Erfahrung von Zeit an.

 
Willi-Peter Hummels Malerei gleicht einer Ballung von Überlagerungszuständen. Zudecken und Entdecken, Distanz und Nähe, Trennung und Vereinigung laufen in einer geradezu paradoxen Weise gleichzeitig ab. Eine gleichsam überhistorische Verwandtschaft sieht sich mit Ablösung konfrontiert. Grenzziehungen sind notwendig, um Kontakte möglich zu machen. In 1982 geschaffenen Arbeiten auf dünnem Japanpapier, genauer Reispapier, versuchte Willi-Peter Hummel in einer tendenziell aggressiven Geste reines Pigment auf den Träger zu bringen, bis hin zum Reissen des Papiers. In jüngsten Arbeiten blitzen Lichter auf – als helle Farbigkeit, gleich einer Emanation, weiter als assoziativer Bewegungsfunke oder, in radikaler Form, als Riss: Licht als Riss. Je transparenter, je nackter etwas erscheint, desto intensiver ist Berührung möglich, zumindest der lebenslange Glaube daran.

©Sabine Arlitt, Dezember 2014  

  1 John von Düffel: Vom Wasser, Schwimmen – Kleine Philosophie der Passionen, beide dtv, München 2000.