Einführung Auf Grund

   

 

Rede von Sabine Arlitt anlässlich der Eröffnung der Ausstellung
"Auf Grund", Atelier Alexander, Winterthur, 2013
 

Paartanz mit dem Ich


 Auf Grund lautet der Titel der Ausstellung mit Arbeiten von Willi-Peter Hummel. Auf Grund wirkt im ersten Moment sehr präzise. Doch gleich darauf, unversehens, lassen einen die beiden Wörter auch schon wieder - unausweichlich und kompromisslos - in grösste Offenheit fallen, in eine Art Bedeutungsentzug. Die Vernissagegäste unter Ihnen, die Willi Hummel schon seit geraumer Zeit kennen, dürften wohl kaum erstaunt darüber sein. Die Titel, die Willi Hummel jeweils seinen Ausstellungen mit auf den Weg gibt, sind stets enigmatisch, rätselhaft dabei auf eine ernste und hie und da auch auf eine geradezu neckisch humorvolle Art. Als ob die Titel ihre Stacheln ausfahren würden, um deutlich zu machen, dass sich die Werke durch keine festen Bedeutungszuschreibungen vereinnahmen lassen.
 dann und wann lautete der Titel einer Ausstellung, die Willi Hummel hier im Atelier Alexander vor drei Jahren einrichtete. Andernorts sorgten Titel wie Capas, Emergenz der Dinge oder Phasenübergänge für eine anregende Ratlosigkeit.
 dann und wann gleicht einem offenen Reservoir voller Zeitmodulationen. Mit dann und wann geht manchmal, geht zuweilen einher, dann allein verweist auf ein Hinterher. Man denkt an darauf folgend und dahinter, aber auch an unter diesen Umständen - ja, sind wir nun schon wieder bei auf Grund angelangt? Dannzumal kennt das Schweizerische: in jenem Augenblick. Doch wann, unter weichen Bedingungen, unter welchen Umständen wird es ein Dannzumal geben? Wohl dann und wann....Die starren Grenzen verlieren, sie öffnen sich. Auf Grund können wir also auch rein zeitlich sehen, was die Sache nicht unbedingt leichter macht.
 Willi Hummels Schaffen, sein Verständnis von Malerei und Zeichnung, hat viel mit sinnlicher Kontaktnahme zu tun. Er geht real und metaphorisch auf Tuchfühlung mit der rohen Leinwand, die zum visuell erfahrbaren Sprachkörper wird. Dialogfreudig und kommunikationsscheu gleichermassen - vielleicht könnte man von virtuell abgetasteten, körperlich wirksamen Sprachgesten im Zuge des Betrachtens sprechen. Berührung in seiner Vielfältigkeit, Vielschichtigkeit und Wandelbarkeit ist das Codewort dieses Schaffens.
 Phasenübergänge setzen neue Eigenschaften frei. Phasenübergänge ereignen sich auf Grund energetischer Zustandsänderungen. Bei vielen Arbeiten Willi Hummels ist das kreuzartig verstrebte, hölzerne Chassis durch die Leinwand hindurch sichtbar. Der Spannrahmen für den textilen Bildträger betont dadurch das Eingespanntsein des Bildgeschehens in Raum und Zeit. Der Eindruck entsteht, als ob das, was sich auf der Bildfläche bemerkbar macht, gleichsam ins Netz gegangen sei und sich mit der aus Vertikalen und Horizontalen gewobenen, durch Unregelmässikgeiten belebten Leinwand augenblicklich verwoben hätte. Formierte Ladung gewissermassen, die Spuren in sich birgt, die mit den Strukturen freigegebener Gefühle zusammenklingen. So wird die malerische Aktion zum tastend suchenden Akt einer persönlichen Daseinsbefragung.
 Willi Hummels Malerei handelt denn auch weniger von einem expressionistischen Sichausdrücken als vielmehr von einem reflektiert-emotionalen Sicherfahren. Der Tag für Tag ausgelöste Transformationsprozess steht im Dienst einer gesteigerten Wahrnehmungsfähigkeit und eines - bei aller Allgemeingültigkeit - höchst persönlich ausgetragenen Sichkennenlernens. Darin dürfte mit ein Grund liegen, dass die (aussenstehenden) Betrachter oftmals erst nach längerer Zeit verstehen, worum es in dieser gleichermassen intimen wie grundlegend existenziellen Malerei gehen könnte, dass sie begreifen, dass das oftmals auf den ersten Blick vermeintlich Unzugängliche gerade Zugänge für jeden und jede eröffnet. Willi Hummels Malerei bietet flüchtige Passformen für eine wandelbare Selbstwahrnehmung an. Und dies sinnlich verankert, am Material orientiert, das er mit Händen und Tüchern aufträgt, das er berührt, das aber immer auch in immaterieller Form prägend präsent ist...
 Auch wenn ich selbst eben von verstehen gesprochen habe, meine ich keinen vorrangig intellektuellen Zugang, vielmehr soll ein Sicheinlassen auf die dargebotene Bildaktion angeregt werden. Es gibt keine feste Szenerie in diesem Schaffen. Vielleicht wären Begriffe wie System oder setting besser geeignet, um das Ereignishafte hervorzuheben, dieses Gewahrwerden weitergegebener, übermittelter Kräfte. Die Einladungskarte führt plastisch vor Augen, was, in Worte gefasst, schnell einmal Gefahr läuft, allzu wortwörtlich genommen und dadurch missverstanden zu werden. Dennoch will ich es wagen, denn mein Arbeitsmaterial muss die Sprache bleiben.
 Body Extensions oder der <Wunsch nach mehr> hiess eine Ausstellung, die vor 9 Jahren im Museum Bellerive in Zürich gezeigt wurde. Human Being Extensions oder der <Wunsch vom Wünschen befreit zu sein> könnte man vielleicht in freier, geistiger Ausweitung des Gedankens mit Blick auf Willi Hummels Anliegen formulieren, um etwas von der menschlichen Sehnsucht einzufangen, sich in Raum und Zeit kampflos kämpfend, erinnernd erahnend, werdend vergehend zu erleben. Den das andere, zugespitzt den den Tod im Leben überwindenden Schwebezustand erreichen wir nie, doch Wünsche im Akt des Malens erfüllend anzugehen, liegt im Bereich des Möglichen und kommt einer Art gelebter Lebenshaltung gleich.
 Schon öfter ist im Zusammenhang mit Willi Hummels Schaffen darauf hingewiesen worden, dass er die Malerei metaphorisch mit dem Ritual der Corrida gleichsetze. Die Leinwand wird symbolisch zur leidenschaftlich bespielten Arena, was einerseits lustvoll geschieht, was andererseits mit jeder neuen bildlichen Attacke auch dem Scheitern ausgesetzt ist, dem Entsagenmüssen. Uneinnehmbarkeit herrscht, Flüchtigkeit. Gleichzeitig ist eine fast barocke Erlebnisintensität wirksam.
 Eine Art Echoraum tut sich auf. Seitlich steht Willi Hummel auf der Einladungskarte vor einer frontal präsentierten Leinwand. Mit seiner rechten Hand berührt er die obere Bildkante. Die linke Hand mit ihrem eingezogenen Daumen ist leicht verschwommen wiedergegeben, in Bewegung festgehalten, Phasenverschiebung in Aktion gleichsam. Ein Zwischenraum wird vage umrissen, ein Ort medialer Transformation. Kontakt- und Distanznahme sind gleichermassen bedeutsam. Willi Hummel scheint im Bild und ausserhalb des Bildes zu sein. Und da entsteht der Eindruck, als ob die gezeichneten
Linien den Körper Willi Hummels in seinen Umrissen ergänzen, mit ihm verschmelzen würden. Handkehrum greifen die Hosenfalten und die linearen Vertiefungen im Pullover die Unebenheiten der Leinwand beziehungsweise das Erzeugungspotenzial der gezeichneten Kraftlinien auf. Natürlich soll diese Beschreibung nicht eins zu eins genommen werden, doch vielleicht hilft sie, das visuelle Ereignis intensiver mit den transformierenden Erlebnissen auf einer persönlichen Empfindungsbasis in Beziehung zu setzen.


 Willi Hummels Arbeiten wollen welthaltig im Autobiografischen sein, aktuell in einer zeitübergreifenden Dimension. Zuweilen ist nur mehr ein Hauch einer Markierung auf der rohen Leinwand auszumachen. Unermesslich bleibt im Grunde der Erlebnisraum, der ein Raum physikalischer Kräfte ist. Willi Hummel liest viel und er ist ein ebenso wacher wie sensibler Beobachter. Seine Neugier lenkt seine Aufmerksamkeit in die unterschiedlichsten Gebiete. All dies formt seine Umgebung, Umgebung verstanden als das, was man als einzelner macht. So könnte man sein künstlerisches Schaffen vielleicht auch mit einer eigenwilligen Variante eines Bildungsromans umschreiben. Dessen Lektüre verwebt sich mit wechselnden Strukturen der Identitätserfahrung. Ein Hin und Her von Andeutung und Verschlüsselung ist angelegt, von Penetration und Reflexion, von Motiventzug und malerisch strukturierter Lesbarkeit.
 Ich habe die Corrida erwähnt, ich muss noch die Höhlenmalerei erwähnen, die beide Willi Hummels Umgang mit der eigenen Malerei wie auch den mit seinen Zeichnungen, Radierungen und Lithografien grundlegend geprägt haben. Der Sand, der öfter in den Arbeiten Eingang findet, ist in diesem Kontext als Reminiszenz bedeutsam. Der Sand bringt aber auch eine spezifische Lichtqualität ein. Schliesslich ist er in seiner Wandelbarkeit metaphorisch wirksam. Rechtzeitig zur Eröffnung dieser Ausstellung hier im Atelier von Alexander Breu ist in der von Theo Hurter begründeten und betreuten Edition SchwarzHandPresse der Band «An der Küste» mit Originaloffsetlithografien von Willi-Peter Hummel erschienen. An dieser Stelle möchte ich Theo Hurter für seine verdienstvolle Arbeit gratulieren, die dieses Wochenende mit der Verleihung des Victor Otto Stromps-Förderpreises der Landeshauptstadt Mainz geehrt wird, einem Preis, der herausragende Leistungen in der Kleinverlagsszene würdigt.
 Einen Satz des Schriftstellers Theodor Fontane setzt Willi Hummel seinen Lithografien voraus: «Er lässt sich nieder, und Figuren in den Sand zeichnend, ziehen die wechselnden Bilder seines Lebens an ihm vorüber.»
Dicht reihen sich die Werke im Lagerraum aneinander. Wie eine sandfarbene Landschaft erscheinen die sich berührenden, hintereinander gestaffelten Leinwandkanten. En bloc wirken sie wie ein Energiespeicher - wie ein virtueller Fels in der Brandung - wie gespeicherte Momente im Fluss der Zeit. Dann und wann entlockt Willi Hummel seinem künstlerischen Schatz einzelne Phasenprotokolle, um sie für Sie, meine Damen und Herren, in einer Ausstellung als Impulsgeber aktiv werden zu lassen. Lassen Sie sich ein bisschen umgarnen von der Zeit - einen Augenblick lang.
 
©Sabine Arlitt, Zürich 2013