Tages-Anzeiger , 22. Juni 2001

Fontane und die kapriziösen Damen
«Rasch in Rock und Hose fahren war nie meine Force.»
(THEODOR FONTANE)


Die Germanistin Regina Dieterle hat 50 unbekannte Briefe von Theodor Fontane entdeckt. Ein Besuch in ihrem Forschungsparadies in der Zürcher Altstadt.

Von Christine Lötscher

Das Kleid ist weiss; der Körper, den es verpackt, sieht nicht unbedingt aus, wie wenn er aus Fleisch wäre: eng geschnürt die Taille, die Haltung dank des Korsetts gerade, der Hals bis zu den Kieferknochen verdeckt. Aber die Augen, das Gesicht, die Hände widersprechen der Gefangenschaft. Martha Fontane, die Tochter des grossen Romanciers Theodor Fontane, sähe aus wie irgendeine Frau am Ende des 19. Jahrhunderts - wenn da nicht die Haare wären. Kurz geschnitten sind sie, und trotzdem noch wild, wie wenn sie ihre Befreiung von Klammern und Spangen jede Sekunde feiern wollten. Wir schauen diese Aufnahme von Martha Fontane über den Dächern der Zürcher Altstadt an; die Fotografie ist eins der Dokumente, die Regina Dieterle im Januar dieses Jahres aufgespürt hat. Martha, sagt sie, sei eine hochinteressante, intelligente Frau gewesen, eine Briefkünstlerin und ein «Plauder-talent». Begabt, aber gefährdet. Sie litt zeitlebens an Depressionen; 1917 nahm sie sich das Leben.

Erotisierte Beziehung
Für Regina Dieterle war immer klar, dass sie es bei Fontane mit einem modernen Schriftsteller zu tun hatte; mit einem überdies, der nicht nur die Menschen um sich herum beobachtete, sondern auch sich selbst. «Fontane kannte ein unglaublich breites Spektrum an Gefühlen», sagt Dieterle - von der jugendlichen Verliebtheit (auch im Alter) bis zur Depression. Das sei etwas, was ihn mit der Tochter verbin-de, die für ihn eine der wichtigsten Quellen der Inspiration war. Und nicht nur das: Martha war die Einzige, die immer an ihren Vater glaubte, auch als er, der seine grossen Romane erst im fortgeschrittenen Alter schrieb, noch nicht als bedeutender Romancier galt. Mit ihrer Dissertation «Vater und Tochter.  Erkundung einer eroti-sierten Beziehung in Leben und Werk Theodor Fontanes» zeigte die 1958 geborene Regina Dieterle erstmals, wie sublim erotisiert die Beziehung zwischen Vater und Tochter war und welche Bedeutung sie für sein literarisches Werk hat. Der neue Fund - sechs Archivschachteln mit 300 Briefen, Fotografien und weiteren Dokumenten - bestätigt noch einmal Dieterles Lesart der fontaneschen Familien-geschichte - und liefert, später einmal, auch Material für eine Biografie über Martha Fontane.
    Das klingt, als ob es in den neu aufgetauchten Briefen sensationelle Neuigkeiten zu lesen gäbe. Doch die Literaturwissenschaft hat nur in den seltensten Fällen mit Sensationsjournalismus zu tun. Wenn Regina Dieterle am Laptop sitzt und die alten Handschriften zunächst einmal entziffert und transkribiert, betreibt sie minuziöse Spurensicherung. Was dabei herauskommt, ist aber nicht weniger als ein neuer, differenzierter Blick auf Fontanes Leben, sein Werk und seine Epoche. In ihrer literaturwissenschaftlichen Arbeit beschäftigt sich Dieterle nicht ausschliesslich mit Fontane, denn sie interessiert sich genauso für die Literatur des 20. Jahrhunderts: 1990 hat sie zum Beispiel zusammen mit Roger Perret Annemarie Schwarzenbachs Reportagen und Feuilletons im Lenos Verlag herausgegeben. Seit zehn Jahren unterrichtet sie zudem als Deutschlehrerin an der Kantonsschule Enge, die sie als innovative, lebendige Mittelschule sehr schätzt.

 «Aber das Klettern!»
Regina Dieterles Fund enthält 50 Briefe Fontanes an den Berliner Architekten Karl Emil Otto Fritsch (1838-1915) und dessen zweite Frau Anna (1858-1897), ein mit den Fontanes befreundetes Paar. Besonders spannend sind die Briefe an die Fritschs aus zwei Gründen: Zum einen war Anna Fritsch eine der kapriziösen jungen Damen, die Fontane verehrte -und mit seinem scharfen psychologischen Auge studierte. Er war fasziniert von der Frau, die Diners und Huldigungen liebte - und liess seine Beobachtungen in «Effi Briest» einfliessen. Einer der neu entdeckten Briefe ist der Begleitbrief, mit dem Fontane einen «Effi Briest»-Band an seine junge Verehrerin schickt. Zu diesem Zeitpunkt trug sich Anna mit der Absicht, sich von K.E.O. Fritsch scheiden zu lassen, was Fontane zumindest geahnt haben muss, als er ihr schrieb: «Den Mann (Innstetten) hat neulich eine Freundin als einen "alten Ekel" bezeichnet, was in so weit einen Eindruck auf mich gemacht hat, als, wenn dies gelten soll, alle Männer eigentlich sind, was vielleicht richtig ist, aber doch einer etwas strengen Auffassung entspricht.» Die dritte Frau von Fritsch - Anna starb mit 39 Jahren - wurde Martha Fontane. Für sie war die Ehe mit Fritsch ein «spätes, ernstes Lebensglück».
    Das alles kann man im Herbst genau nachlesen, wenn eine neue Briefausgabe von Regina Dieterle erscheint: «Theodor Fontane und Martha Fontane. Ein Fami-lienbriefnetz.». Eine Anzahl der  neu entdeckten  Briefe ist bereits in den Band integriert, die Korrespondenz zwischen den Fritschs und den  Fontanes allerdings ist als eigenständige Publikation geplant.
    Weil die Fritschs gleich um die Ecke wohnten und man sich regelmässig sah und sprach, haben die Briefe kaum essayistischen Charakter. Eher geht es um die kleinen Dinge des Alltags. Wer Fontane auch nur ein bisschen kennt, weiss, dass gerade da schöne Trouvaillen zu erwarten sind, immer im Fontane-Ton: «Hoch-geehrter Herr und Freund», schreibt Fontane am 12. Januar 1898 an Fritsch, «Ich hatte vor, mich heute Abend (bei Geh.R. Eggert) wegen meiner Schlafsucht bei Ihnen zu entschuldigen; da ich aber nicht sicher bin, sie dort zu treffen, so ist es doch besser, ich thu es in ein paar Zeilen. Rasch in Rock und Hose fahren, war nie meine Force, immer langsam voran; und nun gar jetzt ist mir der letzte Rest von Flinkheit abhanden gekommen. Wie beneide ich Mommsen, der noch mit 80 auf Leitern klettert und Inschriften liest. Auf das Letztre wollt' ich verzichten, aber das Klettern!»

Regina Dieterle: Vater und Tochter. Erkundung einer erotisierten Beziehung in Leben und Werk Theodor Fontanes. Zürcher Germanistische Studien, Bd. 47. Peter Lang Verlag, Bern, Berlin, New York 1996. 295 S., 63 Fr.

 Im Herbst erscheint: Theodor Fontane und Martha Fontane. Ein Familien-briefnetz. Herausgegeben von Regina Dieterle. Walter de Gruyter, 2002. 971 S., EUR 128