Die Germanistin Regina Dieterle hat 50 unbekannte Briefe von
Theodor Fontane entdeckt. Ein Besuch in ihrem Forschungsparadies in der
Zürcher Altstadt.
Von Christine Lötscher
Das Kleid ist weiss; der Körper, den
es verpackt, sieht nicht unbedingt aus, wie wenn er aus Fleisch wäre: eng geschnürt die Taille, die Haltung dank des Korsetts gerade, der Hals bis zu
den Kieferknochen verdeckt. Aber die Augen, das Gesicht, die Hände
widersprechen der Gefangenschaft. Martha Fontane, die Tochter des grossen
Romanciers Theodor Fontane, sähe aus wie irgendeine Frau am Ende des 19.
Jahrhunderts - wenn da nicht die Haare wären. Kurz geschnitten sind sie, und
trotzdem noch wild, wie wenn sie ihre Befreiung von Klammern und Spangen
jede Sekunde feiern wollten. Wir schauen diese Aufnahme von Martha Fontane
über den Dächern der Zürcher Altstadt an; die Fotografie ist eins der
Dokumente, die Regina Dieterle im Januar dieses Jahres aufgespürt hat.
Martha, sagt sie, sei eine hochinteressante, intelligente Frau gewesen, eine
Briefkünstlerin und ein «Plauder-talent». Begabt, aber gefährdet. Sie litt
zeitlebens an Depressionen; 1917 nahm sie sich das Leben.
Erotisierte
Beziehung
Für Regina Dieterle war immer klar, dass sie es bei Fontane mit
einem modernen Schriftsteller zu tun hatte; mit einem überdies, der nicht
nur die Menschen um sich herum beobachtete, sondern auch sich selbst.
«Fontane kannte ein unglaublich breites Spektrum an Gefühlen», sagt Dieterle
- von der jugendlichen Verliebtheit (auch im Alter) bis zur Depression. Das
sei etwas, was ihn mit der Tochter verbin-de, die für ihn eine der
wichtigsten Quellen der Inspiration war. Und nicht nur das: Martha war die
Einzige, die immer an ihren Vater glaubte, auch als er, der seine grossen
Romane erst im fortgeschrittenen Alter schrieb, noch nicht als bedeutender
Romancier galt. Mit ihrer Dissertation «Vater und Tochter. Erkundung einer
eroti-sierten Beziehung in Leben und Werk Theodor Fontanes» zeigte die 1958
geborene Regina Dieterle erstmals, wie sublim erotisiert die Beziehung
zwischen Vater und Tochter war und welche Bedeutung sie für sein
literarisches Werk hat. Der neue Fund - sechs Archivschachteln mit 300
Briefen, Fotografien und weiteren Dokumenten - bestätigt noch einmal
Dieterles Lesart der fontaneschen Familien-geschichte - und liefert, später
einmal, auch Material für eine Biografie über Martha Fontane.
Das klingt,
als ob es in den neu aufgetauchten Briefen sensationelle Neuigkeiten zu
lesen gäbe. Doch die Literaturwissenschaft hat nur in den seltensten Fällen
mit Sensationsjournalismus zu tun. Wenn Regina Dieterle am Laptop sitzt und
die alten Handschriften zunächst einmal entziffert und transkribiert,
betreibt sie minuziöse Spurensicherung. Was dabei herauskommt, ist aber
nicht weniger als ein neuer, differenzierter Blick auf Fontanes Leben, sein
Werk und seine Epoche. In ihrer literaturwissenschaftlichen Arbeit
beschäftigt sich Dieterle nicht ausschliesslich mit Fontane, denn sie
interessiert sich genauso für die Literatur des 20. Jahrhunderts: 1990 hat
sie zum Beispiel zusammen mit Roger Perret Annemarie Schwarzenbachs
Reportagen und Feuilletons im Lenos Verlag herausgegeben. Seit zehn Jahren
unterrichtet sie zudem als Deutschlehrerin an der Kantonsschule Enge, die
sie als innovative, lebendige Mittelschule sehr schätzt. «Aber das
Klettern!»
Regina Dieterles Fund enthält 50 Briefe Fontanes an den Berliner
Architekten Karl Emil Otto Fritsch (1838-1915) und dessen zweite Frau Anna
(1858-1897), ein mit den Fontanes befreundetes Paar. Besonders spannend sind
die Briefe an die Fritschs aus zwei Gründen: Zum einen war Anna Fritsch eine
der kapriziösen jungen Damen, die Fontane verehrte -und mit seinem scharfen
psychologischen Auge studierte. Er war fasziniert von der Frau, die Diners
und Huldigungen liebte - und liess seine Beobachtungen in «Effi Briest»
einfliessen. Einer der neu entdeckten Briefe ist der Begleitbrief, mit dem
Fontane einen «Effi Briest»-Band an seine junge Verehrerin schickt. Zu
diesem Zeitpunkt trug sich Anna mit der Absicht, sich von K.E.O. Fritsch
scheiden zu lassen, was Fontane zumindest geahnt haben muss, als er ihr
schrieb: «Den Mann (Innstetten) hat neulich eine Freundin als einen "alten
Ekel"
bezeichnet, was in so weit einen Eindruck auf mich gemacht
hat, als, wenn dies gelten soll, alle Männer eigentlich
sind, was vielleicht richtig ist, aber doch einer etwas
strengen Auffassung entspricht.» Die dritte Frau von Fritsch - Anna starb
mit 39 Jahren - wurde Martha Fontane. Für sie war die Ehe mit Fritsch ein
«spätes, ernstes Lebensglück».
Das alles kann man im Herbst genau nachlesen,
wenn eine neue Briefausgabe von Regina Dieterle erscheint: «Theodor Fontane
und Martha Fontane. Ein Fami-lienbriefnetz.». Eine Anzahl der neu entdeckten Briefe ist bereits in den Band integriert, die Korrespondenz zwischen den
Fritschs und den Fontanes allerdings ist als eigenständige Publikation
geplant.
Weil die Fritschs gleich um die Ecke wohnten und man sich
regelmässig sah und sprach, haben die Briefe kaum essayistischen Charakter.
Eher geht es um die kleinen Dinge des Alltags. Wer Fontane auch nur ein
bisschen kennt, weiss, dass gerade da schöne Trouvaillen zu erwarten sind,
immer im Fontane-Ton: «Hoch-geehrter Herr und Freund», schreibt Fontane am
12. Januar 1898 an Fritsch, «Ich hatte vor, mich heute Abend (bei Geh.R.
Eggert) wegen meiner Schlafsucht bei Ihnen zu entschuldigen; da ich aber
nicht sicher bin, sie dort zu treffen, so ist es doch besser, ich thu es in
ein paar Zeilen. Rasch in Rock und Hose fahren, war nie meine Force, immer
langsam voran; und nun gar jetzt ist mir der letzte Rest von Flinkheit
abhanden gekommen. Wie beneide ich Mommsen, der noch mit 80 auf Leitern
klettert und Inschriften liest. Auf das Letztre wollt' ich verzichten, aber
das Klettern!»
Regina Dieterle:
Vater und Tochter. Erkundung einer
erotisierten Beziehung in Leben und Werk Theodor Fontanes. Zürcher
Germanistische Studien, Bd. 47. Peter Lang Verlag, Bern, Berlin, New York
1996. 295 S., 63 Fr.
Im Herbst erscheint:
Theodor Fontane und Martha
Fontane. Ein Familien-briefnetz. Herausgegeben von Regina Dieterle. Walter de
Gruyter, 2002. 971 S., EUR 128 |